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        Was ist Wushu?

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        Scheingefecht: Christoph Huynh springt und schwingt die Kurzwaffe - der Wushu-Kampfrichter schaut genau hin

        Scheingefecht: Christoph Huynh springt und schwingt die Kurzwaffe – der Wushu-Kampfrichter schaut genau hin

        Wushu will olympisch werden. Um verstanden zu werden, passt sich die chinesische Kampfkunst dem westlichen Publikum an. Doch wer sich auf eine Expedition in die Welt des Wushu begibt, kommt sich vor wie im Dschungel. Es gibt 129 Hauptstile.

         

        Mitten in der Schulsporthalle stehen drei Sprungkästen. Sie sind mit verschiedenfarbigen Tüchern dekoriert, daran sind weiße Papierblätter mit den Ziffern 1, 2 oder 3 geheftet. Ganz oben auf diesem improvisierten Siegerpodest steht Jessy, eine Goldmedaille um den Hals und eine Urkunde in der Hand. Jessy ist elf Jahre alt und schon ein alter Wushu-Hase. An sechs deutschen Meisterschaften hat er teilgenommen, im vergangenen Jahr ist er sogar zu den europäischen Titelkämpfen ins estnische Tallin gereist. Zufrieden mit seiner preisgekrönten Vorführung ist Jessy diesmal in Düsseldorf nicht. „Ich habe gewackelt“, sagt der kleine Knirps, der nach Vollendung strebt: „Ich will ein großer Wushu-Meister werden.“ Vielleicht muss man Jessy aus Bielefeld im Auge behalten, vielleicht wird er erster deutscher Olympiateilnehmer im Wushu, als Achtzehnjähriger bei der olympischen Premiere der chinesischen Kampfkunst im Jahre 2020.

        Ob Jessy Merten vom „Wushu & Kampfkunst Club Lippe“ wirklich an den Sommerspielen teilnehmen darf, hängt nicht nur von seinem Talent und Trainingseifer ab. Es liegt vor allem am Internationalen Olympischen Komitee (IOC). An diesem Mittwoch präsentieren sich die acht olympischen Kandidaten in Sankt Petersburg, und wer es dort auf die „Short List“ des IOC schafft, darf sich Hoffnungen machen, von der IOC-Vollversammlung Anfang September ins olympische Programm für 2020 aufgenommen zu werden. Wushu gehört dazu. Aber was ist so toll an dem chinesischen Kampfsport, von dem die westliche Welt kaum etwas gehört hatte, bis er im Februar zu einem der möglichen Nachfolger des Streichkandidaten Ringen wurde?

        „Es ist toll, dass man immer in Bewegung bleibt“, sagt der elfjährige Jessy.

        „Am Anfang habe ich für mich eine Art der Selbstverteidigung gesucht. Später kam hinzu, dass meine Kinder gesund bleiben und Disziplin erlernen sollen“, sagt Sergej Merten, Jessys Vater und Trainer.

        „Reizvoll sind die Körperbeherrschung und die Vielfältigkeit. Charakter und Körper werden geschult, und man kann Wushu ein ganzes Leben lang betreiben“, sagt Christoph Huynh, seit Jahren der beste deutsche Kämpfer.

        „Es ist eine Choreographie wie beim Tanzen oder Turnen. Wushu ist superschön zum Zuschauen“, sagt Roland Czerni, Präsident der Deutschen Wushu Federation.

        Es gibt 129 Hauptstile

        Wer sich auf eine Expedition in die Welt des Wushu begibt, kommt sich zunächst vor wie im Dschungel, so viele schier undurchdringliche Formen gibt es. In der Düsseldorfer Schulsporthalle herrscht großes Gewimmel, auf vier Matten wird gesprungen, geschlagen, getreten oder sich gereckt und gestreckt. Männer wie Christoph Huynh wirbeln minutenlang herum und rasseln mit dem Säbel, Frauen tänzeln mit einem Speer, im Selbstverteidigungskampf legen sich zwei Partner gegenseitig aufs Kreuz, junge Männer prügeln mit Boxhandschuhen aufeinander ein, in sich versunkene ältere Damen zeigen Tai-Chi-Übungen. Das alles ist Wushu, denn Wushu ist der Oberbegriff für alle möglichen chinesischen Kampfkünste, die außerhalb des Mutterlandes oft als Kung-Fu bezeichnet werden.

        129 Hauptstile haben sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt, dazu noch viele Ableger, je nach Religion und Region: Es gibt Wushu aus dem Norden Chinas und aus dem Süden, es gibt traditionelles und modernes, inneres und äußeres, Vollkontakt und Leichtkontakt, mit Waffe oder ohne und so weiter.

        Damit das IOC den Durchblick im Wushu-Dschungel behält, bekommt es nur ausgewählte Wettkampfformen zu sehen. Diejenigen Darbietungen einzelner Sportler also, die von vier Kampfrichtern nach bestimmten Kriterien und mit bis zu 10,0 Punkten benotet werden. Schwierigkeitsgrad der Übungen, Genauigkeit bei der Ausführung einzelner technischen Formen und das Niveau der Vorführung in puncto Kraft, Koordination und Ausdruck gehen in die Wertung ein. „Man hat es so eingerichtet, dass es für Olympia passt“, sagt Caroline Roblitschka, die Vizepräsidentin des deutschen Wushu-Verbandes ist und mit ihrem Mann eine Kampfkunstschule in München betreibt: „Das Punktesystem ist mit anderen ästhetischen Sportarten wie Turnen oder Turmspringen vergleichbar.“

        © VON SIEBENTHAL, JAKOB Wer hier stören will, muss fühlen: Selbstverteidigung nach Wushu-Art

        © VON SIEBENTHAL, JAKOB Wer hier stören will, muss fühlen: Selbstverteidigung nach Wushu-Art

        Seit 1999 versucht der Weltverband, Wushu ins olympische Programm zu bekommen. Doch das IOC hat stets abgewinkt, weil es die Kampfwertung für schwer nachvollziehbar hielt. Bei den Sommerspielen 2008 reichte es für einen Demonstrationswettbewerb, an zwei Tagen durften sich die Kampfkünstler im Mutterland des Wushu präsentieren.

        Eine Ahnung von der speziellen Ästhetik und Artistik bekommt, wer Christoph Huynh bei seinen choreographierten Scheingefechten zuschaut. Fließende Bewegungen wechseln mit rasanten eineinhalbfachen Drehungen, langsame Schrittfolgen mit ruckartigen Tritten, Spagate mit Salti. Augenblicklich springt Huynh aggressiv wie ein Kungfu-Fighter, im nächsten Moment tänzelt er elegant wie ein Ballettstar. Mindestens achtzig Sekunden muss eine Wettkampfform dauern, viel länger hält es selbst ein Spitzenathlet wie der 27 Jahre alte Huynh nicht aus. In einer Studie hätten Sportwissenschaftler festgestellt, so der vielmalige deutsche Meister, „dass die Belastung eines Wushu-Kämpfers während seiner Vorführung genau so hoch ist wie die eines 400-Meter-Läufers“.

        Disziplin und schöne Bewegungen

        Huynh trainiert täglich drei Stunden, den Rest der Zeit unterrichtet er in einer Kampfsportschule. Ein Großteil des Geldes, das er durch Wushu verdient, steckt er in seine Karriere. Die Unterstützung des Verbandes sei nur ein Zubrot, so dass er 1200 Euro berappen müsse, um im Oktober zur Weltmeisterschaft zu reisen. Dort in Malaysia trifft der Münchner, dessen Eltern aus Vietnam stammen, auf die Großen der Wushu-Welt.

        Unter den 143 nationalen Verbänden dominieren, neben den chinesischen Vollprofis, die Kampfsportler aus Singapur, Malaysia und Russland. In Deutschland sind 4000 Kämpfer in 98 Vereinen organisiert, Tausende weitere trainieren in Kampfsportschulen. Der Weg zum Wushu verläuft vor allem bei Männern wie Christoph Huynh oft gleich: Fasziniert von Action-Filmen mit Bruce Lee, Jackie Chan, Jean-Claude Van Damme oder Chuck Norris, suchen sie eine Gelegenheit, den Star-Fightern nachzueifern. Vieles habe er ausprobiert, sagt Sergej Merten, Karate, Taekwondo, Thaiboxen, ehe er über das Kung-Fu schließlich beim Wushu hängengeblieben sei. „Die Disziplin und die schönen Bewegungen haben mich fasziniert“, so der Trainer-Vater, dessen Lipper Klub wie ein Familienbetrieb geführt wird. Fünf seiner sechs Kinder im Alter von 5 bis 21 Jahren sind schon kleine Wushu-Künstler in schmucken Kampfanzügen. Das letzte Kind ist nicht aus der Art geschlagen, sondern erst drei Wochen alt.

        Obwohl sich Wushu durch das Wettkampfsystem olympiatauglich gemacht hat, kommt es traditionell nicht aufs Gewinnen an, sondern auf die innere und äußere Haltung im Sinne des Konfuzianismus. „Um Wushu verstehen zu können, muss man auch die chinesische Kultur kennen“, sagt Christoph Huynh. Nur dann kann man auch die Symbolik in den Lehrbüchern des traditionellen Stils nachvollziehen, die Caroline Roblitschka und ihr Mann, der Großmeister und Wushu-Gelehrte Jianguo Sun, studiert haben. Überliefert ist darin: Der Kampfkünstler soll leicht wie ein Äffchen auftreten, seine Augen sollen erscheinen wie Sternschnuppen, seine Hüfte sei wie eine Schlange und seine Bewegung so fließend wie eine Meereswelle. „Man muss das Wushu auch dem westlichen Publikum schmackhaft machen“, sagt Huynh, vor allem im Hinblick auf die anstehende IOC-Entscheidung. Auch Jianguo Sun sieht die Zeit gekommen, dass eine der ältesten Kulturen der Welt endlich auf dem Olymp vertreten ist: „Wushu ist wie ein Bambus, der im Frühling wachsen muss“, sagt der Großmeister. Die Optimisten unter den deutschen Wushu-Kämpfern beziffern die olympischen Aussichten auf dreißig Prozent. Die Übermütigen sehen die Chancen bei „fifty-fifty“. Jessy aus Bielefeld ist jung genug, um noch viele weitere Jahre warten zu können.

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