In sechs Lichtenberger Markthallen haben sich Berliner Vietnamesen ein Klein-Hanoi erbaut. Hier verkaufen sie, was ihnen gefällt, ohne Rücksicht auf die
Vorlieben der Deutschen. Die kommen trotzdem, auch um zu erleben, wie die Nationalsuppe Phò wirklich schmeckt.
Um zwölf Uhr essen gehen? Auf keinen Fall, sagt Tran Cong Thanh. Um zwölf Uhr schlage in Vietnam die Stunde des Pferdes, und wer halbwegs bei Sinnen sei, bewege sich um diese Zeit nicht von der Stelle. Weil das Pferd einen niedertrampeln könnte? Und überhaupt: welches Pferd? Thanh hebt die Schultern. So genau wisse er das leider nicht. »Da müssten Sie unsere Alten fragen.« Doch die sind weit weg.
Thanh steht in einer wattierten Jacke auf einem Parkplatz in Berlin-Lichtenberg, das gar nicht so licht ist, wie der Name nahelegt, eher zugig. Breite Straßen, schmucklose Häuser, am Horizont wachsen Plattenbauten in den Himmel. Viele Erdgeschosse sind vernagelt, ab und an findet man eine Arztpraxis oder ein Küchenstudio, aber kein Café, in dem man sich aufwärmen könnte. Der Parkplatz liegt auf dem Gelände des ehemaligen VEB Elektrokohle, gut versteckt hinter einer Backsteinruine mit eingeschlagenen Fenstern. Hinge über der Zufahrt nicht die rot-gelbe Leuchtreklame »Dong Xuan Center«, nichts würde darauf hindeuten, dass man schon nach wenigen Schritten in Asien ist. Man muss nur eine der sechs Wellblechhallen auf dem Gelände betreten.
Um zehn nach zwölf, als von dem Pferd keine Gefahr mehr droht, öffnet Thanh die Tür zu Halle 3. Die Garküche, die der Mittvierziger nach seinem jüngsten Sohn Duc Anh benannt hat, liegt am Kopfende einer langen, schmalen Ladenstraße, von der rechts und links kleine Geschäfte abzweigen. Jeans gibt es hier in allen Farben der RAL-Tabelle; Hochzeitskleider; gewagte Unterwäsche und praktische; Wärmflaschen, die Musik machen; Plastikspielzeug, das jede Mutter das Fürchten lehrt. Außerdem: Plastikschüsseln, Plastikschuhe, Plastikblumen.
Im Dong Xuan Center hat eine lange fast unsichtbare Minderheit sich ein Forum errichtet. Die Wände sind tapeziert mit Kleinanzeigen von Fahrschulen, Anwaltskanzleien und Devisenhändlern, so reimt man es sich aus den entsprechenden Bildern zusammen. Die einzigen deutschsprachigen Schilder sagen: »Fotografieren verboten« und »Bitte nicht rauchen«.
Letzteres scheint hier aber keinen so recht zu kümmern. Überall stehen volle Aschenbecher herum; im Hausaltar eines Telefonkartenanbieters verglimmen zwischen den Räucherstäbchen auch zwei Zigaretten. Davor unterhalten sich zwei Männer so temperamentvoll, dass man schon befürchtet, sie gingen sich gleich an die Gurgel.
Auch im Duc Anh ist es laut. Das Geklapper von Tellern und Schüsseln geht in eine gewaltige Mittagskakofonie ein. Zwei asiatische Schönheiten, am ganzen Körper mit Schmuck behängt, fallen sich rasselnd in die Arme, Mütter halten ihre Kinder zeternd dazu an, nicht mit den Stäbchen im Essen herumzustochern, Geschäftsleute in dunklen Lederjacken schlürfen, über die Teller gebeugt, hastig ihre Suppen. Tran Cong Thanh grüßt Kellnerinnen, die riesige Tabletts so leichtfüßig tragen, als handele es sich um Attrappen, und nickt seiner Frau zu, die mit kerzengeradem Rücken und stoischem Lächeln hinter der Theke einen Berg Knoblauch schält.
Dann bestellt er zwei Portionen Phò, die vietnamesische Nationalsuppe, und zwar mit Hühnerfleischeinlage. »In Vietnam essen wir das Huhn mit Haut und Knorpeln«, sagt er. »Probieren Sie?« Natürlich. Ihm scheint das wichtig zu sein. Thanh, muss man wissen, war einer der ersten vietnamesischen Gastronomen, die in Berlin beschlossen, keine Rücksicht mehr auf die Essgewohnheiten der Deutschen zu nehmen. Vor 17 Jahren fing er an, vietnamesisch zu kochen – und zwar für Vietnamesen. Das war damals eine ziemlich revolutionäre Idee. Die Banken hielten ihn für übergeschnappt. Wie er sich das denn vorstelle? Vietnamesen kochten doch für Deutsche! Seit der Wende hatten die ehemaligen Vertragsarbeiter der DDR die neuen Länder mit einem Netz von Asia-Imbissen überzogen. Auch Tran Cong Thanh, der bis 1989 Werftarbeiter auf Rügen war, versuchte, sich nach seiner Entlassung mit diversen Schnellrestaurants über Wasser zu halten und so der drohenden Abschiebung zu entgehen.
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